Das Stein-Quadryptychon von Simon Bening
Ein flämischer Altar mit 64 fantastischen Miniaturan zum Leben Jesu
Simon Bening – Apotheose der Buchmalerei
Wie kein anderer steht Simon Bening als Synonym für die Buchmalerei selbst. Zu seinen Kunden und Auftraggebern zählten weltliche und kirchliche Fürsten, Könige und Kaiser, denen die Gent-Brügger Schule als höchste und unverwechselbare Marke der Buchkunst galt – und das zu einer Zeit, da das handgeschriebene Buch bereits vom Buchdruck verdrängt wurde. Mit Simon Bening erreichte die Buchmalerei ihre Apotheose.
Insgesamt 64 phantastische Miniaturen des großen Meisters im Format von 7,2 x 5,3 cm sind auf vier Bildtafeln, die mit ihren vergoldeten Holzrahmen ein Format von 33,8 x 27 cm aufweisen, zusammengefasst. In dieser Dichte, und vor allem in seiner Konfektionierung ist das Stein-Quadriptychon bis heute einzigartig geblieben und zeigt auf engstem Raum das ganze Können des schon zu Lebzeiten als „der beste Meister der Buchillustration in Europa“ gerühmten Simon Bening.

Bestimmung und Auftraggeber bleiben im Dunkeln
So wie der Erwerb der vier prachtvollen Tafeln mit den 64 großartigen, zwischen 1523 und 1526 auf Pergament gemalten Einzelbildern im Dunkeln liegt, kann auch bis zum heutigen Tage über die Entstehung dieser Altarbilder nur gerätselt werden – ebenso wie über die Bestimmung der heute auf vier Tafeln aufgeteilten Miniaturen. Waren sie zunächst als Illustrationen konzipiert, die in ein Gebet- oder Andachtsbuch eingefügt werden sollten? Dazu jedoch ist kein passender Text der Zeit bekannt. Oder sollten diese kleinen Kunstwerke als lose Blätter in einem Album gesammelt werden – wofür der recht unterschiedliche Erhaltungszustand spricht?
Gewiss ist nur, dass die Tafeln – bereits in ihrer heutigen Form – erst im Jahr 1886 wieder aus dem Dunkel der Geschichte auftauchten: beim Verkauf der Sammlung des Pariser Kunsthändlers Charles Stein. Seit wann sie so konfektioniert waren, ist bis heute unbekannt; sie waren es aber wohl nicht von Beginn an. Untersuchungen haben gezeigt, dass die Holzrähmchen um die einzelnen Miniaturen in einer Technik gefertigt wurden, die erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts möglich wurde.
1888 wurden die Miniaturen in einer Brüsseler Ausstellung gezeigt und verschwanden dann wieder aus der öffentlichen Wahrnehmung. Wahrscheinlich gingen sie in den Besitz eines privaten Sammlers über. Erst 1913, genauer am 13. April, tauchten sie wieder auf: in einer Sendung an den Eisenbahn-Magnaten Henry Walters in Baltimore.
Ein Bilder-Epos über das Leben Christi
Die erste der vier Tafeln illustriert zunächst die Marienlegende und schildert dann Geburt und Kindheit Jesu. Die folgende Tafel zeigt 16 goldgehöhte Bilder, die von der Taufe im Jordan bis zur Verspottung Jesu führen. Eindrücklich und in sehr grellen Farben erlebt der Betrachter dann die eigentliche Passion und den Kreuztod. Die letzte Tafel schließlich schildert mit ihren Bildern den Ablauf von der Kreuzabnahme bis zum Pfingstwunder, um – wie bei einer Rahmenerzählung – zum Leben Marias, ihrem Tod und ihrer Himmelfahrt zurückzukehren. Den Abschluss bildet das Jüngste Gericht. Das „Stein-Quadriptychon“ ist einer der umfangreichsten und eloquentesten Bilderzyklen zum Leben Jesu aus der Zeit des ausgehenden Mittelalters.
Denn Bening erzählt hier nicht nur einfach eine Geschichte. Die 64 Miniaturen sind voll von ikonographischen Feinheiten und Mehrdeutigkeiten; sie zeigen liebevolle Darstellungen von Gegenständen des täglichen Lebens und bestechen durch eine emotionale Lebendigkeit in Gestik und Gesichtsausdruck. Die Geschichte Jesu wird so ausdrucksvoll erzählt, dass sie den Betrachter durch die bildliche Komposition zu einem tieferen Verständnis des Wunders von Christi Auferstehung führt. Auch der menschliche Aspekt hinter Jesu Lebens- und Leidensgeschichte bis hin zur selbstlosen Aufopferung, begleitet von nur allzu natürlichen Emotionen, kommt durch Benings Hand klar zum Ausdruck.
64 außergewöhnliche Miniaturen zum Leben Christi
Ein Werk von unglaublicher Dichte
Wenn man von Miniaturen spricht, so stellt man sich unweigerlich die großartigen Bilder in Handschriften vor, wie sie die europäische Kunst über Jahrhunderte geschaffen hat. Umso erstaunlicher und faszinierender ist es, wenn man zum ersten Mal jenes Meisterwerk betrachtet, das in seiner Körperlichkeit so gar nichts mit Handschriften zu tun hat – und dennoch als eines der größten Werke des wohl berühmtesten Miniaturenmalers in die Kunstgeschichte eingegangen ist:
das Stein-Quadriptychon von Simon Bening.